16. Januar 2023

Aus der Serie "Rennbericht von Gilles Roulin": Wengen - oder Dihei ist's am schönsten

Nach der Abfahrt in Bormio in der Altjahreswoche haben wir Abfahrer jeweils etwas Zeit um - nach dem Saisonstart mit den Nordamerika-Rennen und der Italientournee – durchzuatmen. Diese Zeit wird einerseits genutzt, um sich zu erholen aber auch um sich zu verbessern. Konkret haben wir in Anzère drei Tage trainiert.

Am 6. Und 7. Januar habe ich dann zwei Super-G Europacup Rennen in Wengen bestritten. Ich konnte mir den 5. Platz im ersten Rennen und den Sieg im zweiten Rennen sichern. Für die Weltcuprennen konnte ich jedoch keine konkreten Erkenntnisse gewinnen, denn der Super-G war im oberen Streckenteil und die Kurssetzung ist total anders gewesen als die Kurssetzung im Weltcup dann war. Das habe ich aber auch nicht erwartet. Bei der Teilnahme am Europacup ging es darum Rennen zu bestreiten und gute Leistungen zu zeigen. Was mir auch gelungen ist.
Nach einem kurzen zweitägigen Time-Out zuhause ging es für mich am letzten Montag dann auch gleich wieder zurück nach Wengen für das erste grosse Highlight der Saison. Die Lauberhorn Abfahrt ist mein absolutes Lieblingsrennen. Dies hat sowohl mit der atemberaubenden Kulisse, den fantastischen Schweizer Fans aber auch der genialen Strecke zu tun, die so viele verschiedene Herausforderungen bereithält.

Wir hatten riesiges Glück, denn die Wetterprognosen waren alles andere als vielversprechend. Trotzdem konnten wir unsere Abfahrttrainings durchführen und dem Klassiker am Fusse von Eiger, Mönch und Jungfrau stand somit nichts mehr im Weg.
Bereits am Morgen haben wir die Nachricht bekommen, dass die Jury um 11:00 Uhr entscheiden wird, ob wir vom Originalstart aus starten können, oder ob wir auf Grund des vorhergesagten Windes auf den Reservestart ausweichen müssen. So kam um 11:00 Uhr dann auch die Nachricht, dass es tatsächlich nur vom Reservestart aus geht. Dies bedeutet insbesondere, dass die Abfahrt einiges kürzer ist als von ganz oben, konkret Fallen 45 Sekunden Fahrzeit weg. Wenn ich auswählen könnte, würde ich immer von oben starten aber solche Gedanken mache ich mir erst jetzt beim Schreiben, während der Vorbereitung darf es für mich keine Rolle spielen, von wo gestartet wird. Alles was zählt ist, dass ich weiss, was die Änderung bedeutet für meine Taktik.

In Wengen ist immer viel Zuschauerandrang, was extrem toll ist und ich auch immer sehr geniesse und was mir auch hilft, um mich voll auf meine Aufgabe zu konzentrieren, trotzdem war ich am Samstag extrem nervös. Erst als ich am Startgelände angekommen bin und mein Warm-Up Programm begonnen habe, hat sich die Nervosität etwas gelegt und ich konnte mich sehr gut auf den Moment fokussieren. So stand ich dann am Start. 13:15 und noch 10 Sekunden zu start. Bei der verkürzten Strecke ist der Start extrem wichtig, weil es relativ flach los geht und das Tempo bis nach dem Sprung über den Hundschopf sehr gering bleibt. Von da an, nimmt der Speed jedoch zu und nach einem weiteren Sprung über die Minschante geht es mit einer langen, nach links abhängenden Kurve bereits Richtung Alpweg, welcher gerade aus zum Kernen-S führt. Ich fahre mit 105 Km/h auf das blaue A-Netz zu. Ich weiss genau, dort wo ich mein Schwung ansetzen möchte, hat es zwei Schläge (Unregelmässigkeiten in der Piste, die meine Ski deformieren werden, sodass diese nicht genau das machen, was ich möchte, sondern kurz unkontrollierbar sind). Ich weiss auch, dass ich vorher schon etwas Tempo herausnehmen könnte, die Stelle dann einfacher zu passieren wäre, ich jedoch auch Zeit gegenüber den Besten verlieren würde, denn diese nehmen kein Tempo heraus. Deshalb entscheide ich mich, für die risikovollere Variante und setzt genau da an, wo die Schläge sind, prompt komme ich etwas aus dem Gleichgewicht und verliere die Kontrolle über den Aussenski, welcher eigentlich den Hauptdruck übernehmen sollte.

Es passiert alles in Sekundenbruchteilen und ich schimpfe mich schon einen Idioten, während ich das Gleichgewicht wiedererlange und versuche im zweiten Schwung der S-Abfolge allen Zug noch irgendwie mitzunehmen. Geschafft – trotzdem fühlt es sich an, als hätte ich das Rennen bereits in den Sand gesetzt. Es kommt ein langes Gleiterstück (viel Zeit, um sich Gedanken zu machen). Ich versuche nicht daran zu denken, was war, sondern das bestmögliche aus der mir verbleibenden Streckenlänge herauszuholen. Fünf schnell aufeinanderfolgende Kurven, bevor es mit einem Linksschwung über den Sprung bei der Einfahrt in den Haneggschuss geht. 143 Km/h werden gemessen, einer der schnellsten Abschnitte im ganzen Jahr. Blind über eine Welle und sofort auf den Aussenski für die lange Linkskurve im Seilersboden. Mit 143 Km/h kommt viel Druck zusammen. Ich halte dagegen, wechsle die Kanten und springe über den Silberhornsprung Richtung Öterreicherloch (Hier sind einmal besonders viele Österreicher gestürzt, deshalb der Name). Alles gut erwischt, jetzt noch eine freche Linie im Ziel-S und hoffen, dass ich noch etwas aufholen konnte. Ziel, riesen Anspannung bis die Anzeigetafel in Sicht kommt -viel Jubel, vielleicht war es doch – 7! Yes, es war tatsächlich nicht so schlimm. Ich schreie meine Freude heraus und nehme die Emotionen des Publikums auf. Was für ein tolles Gefühl – mein nächstes Top 10 Ergebnis und dass back-to-back. Auch wenn ich später noch auf den 8. Platz zurückfalle, bin ich super happy mit meinem Ergebnis. Besonders toll ist, dass wir eine fantastische Team Leistung zeigen konnten und sich 6 Schweizer in den ersten 13 Rängen platzieren konnten.

Gilles